Neue Erfolgsfaktoren für Unternehmen in der Digitalen Transformation

Isabell Welpe
7 min readAug 10, 2022

Prof. Dr. Isabell M. Welpe Lehrstuhl “Strategie und Organisation” der TUM, wissenschaftliche Leiterin des Bayerischen Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung

Simon Hochstraßer studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Strategie und Organisation an der TU München, Master Student in Management & Technology

Unternehmen sehen sich mit einer volatilen, unsicheren, komplexen und uneindeutigen — „VUCA“ — Marktumgebung konfrontiert, die zur grundlegenden Erneuerung ihrer Geschäfts-, Arbeits- und Organisationsmodelle führt.

Bisherige Erfolgsfaktoren, die Unternehmen im letzten Jahrhundert noch vor Konkurrenten schützen konnten wie z.B. starke Regulierung, starker Markenname, gesicherte Vertriebswege oder die Kapitalintensität des eigenen Geschäftsmodells wird in Anbetracht des Wettbewerbs heutzutage nicht mehr unbedingt als vorteilhaft, vielmehr sogar als Herausforderung und manchmal sogar als Nachteil gesehen. Früher waren Personal, Material, Gebäude und Maschinen Eintrittsbarrieren gegen neue Wettbewerber — heute sind es Liabilities. Ein zentraler Erfolgsfaktor in der digitalen Transformation und dem bisherigen Web2 ist Kundenfokus, also die Fähigkeit von Organisationen ihren Kund:innen individuelle Lösungen anbieten zu können, wann, wo und wie diese sie benötigen. In Web3 setzen sich diese und weitere neue Erfolgsfaktoren weiter durch. Web3 bietet das Potenzial, die B2C Beziehung neu zu denken und mehr Menschen an der eigenen Wertschöpfung zu beteiligen. Die erfolgreiche Umsetzung erfordert jedoch Flexibilität und die Bereitschaft des Unternehmens, interne Systeme zu hinterfragen und neu auszurichten. Im Folgenden werden die zentralen Erfolgsfaktoren des digitalen Wandels kurz erläutert. Die zugehörigen Checklisten bieten Unternehmen die Möglichkeit zu überprüfen, inwieweit sie die neuen Erfolgsfaktoren schon umgesetzt haben.

Kundenfokus

Die Kund:innen und deren grundlegende Ansprüche ernst zu nehmen ist einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren. Die Ausrichtung der Kaufentscheidungen liegt nicht mehr allein in der Suche nach dem besten Produkt/ Dienstleistung. Kund:innen wünschen sich individuelle Lösungen, welche nicht nur ihren Bedürfnissen, sondern auch den eignen Wertvorstellungen gerecht werden. Diese Lösung sollte im besten Fall in der Form, zu der Zeit und an dem Ort zur Verfügung stehen, wie es die Kund:innen wünschen und erwarten. Diese „Customer Centricity“ geht mit der Notwendigkeit einher, Prozesse, Strukturen, Arbeit und Zusammenarbeit sowie alle Geschäftsmodelle neu zu denken, um Raum für neue Lösungen und Lösungswege zu schaffen.

Community

Die genauere Betrachtung der Kundenbedürfnisse zeigt die zunehmende Relevanz des „Wir-Gefühls“. Bereits die Entwicklung von Web2 (und die entstandenen Plattformen) offenbarten den Stellenwert von Gemeinschaft. Während im Web2 die Nutzer:innen nur „einfaches“ Mitglied einer Community sind und die vorgefertigten Inhalte von „Creators“ konsumieren, wird sich mit Web3 auch die Rolle der Nutzer:innen innerhalb der Community weiterentwickeln. Die Entwicklung geht von der Konsumentenperspektive hin zu einer aktiven Beteiligung an der Gemeinschaft. Unternehmen können diesen Trend aufgreifen und für ihre Kund:innen mit Hilfe von Communities ein wertschöpfendes Asset aufzubauen. Dies kann einerseits die Identifikation mit der eigenen Marke fördern und andererseits die Chance auf neue Geschäftsmodelle und Erlöse eröffnen.

Offenheit

Die Grundvoraussetzung für Unternehmen, um eben solche neuen Bewegungen erkennen zu können, ist die Offenheit — die Offenheit, wie man externe Einflüsse im Unternehmen aufnimmt und die Offenheit, wie man mit internen Informationen umgeht. Ersteres beschreibt die Art und Weise, wie auf neuartige Entwicklungen in der Gesellschaft oder Erkenntnisse aus der Wissenschaft reagiert wird. Dazu zählt auch, ob Entscheidungsträger:innen diesen mit ernsthaftem Interesse begegnen und offen für die Integration im eigenen (oder einem neuen) Wertschöpfungsprozess sind. Offenheit im Hinblick auf interne Daten mag im ersten Moment kontraproduktiv erscheinen. Bislang wurden unternehmensinterne Informationen möglichst geheim gehalten. Inzwischen ist es jedoch vor allem in der Software-Branche üblich, in Konferenzen und Hackathons Unternehmensinformationen preis zu geben. Das Ziel ist es, externen Expert:innen und kreativen Köpfen die Möglichkeit zu verschaffen, neue Ideen für die Firma zu entwickeln. Diese Offenheit stellt folglich eine neue Quelle für Innovation und damit auch einen weiteren Erfolgsfaktor dar.

Originalität und Innovation

„One size fits all“ war gestern. Heute müssen individuelle Lösungen im Zentrum des Unternehmensgedankens stehen. Hierzu ist es notwendig, historisch gewachsene Systeme und Denkmuster zu durchbrechen und innovative Ansätze hervorzubringen. Neben Innovation auf Produktebene spielt auch die Innovation von Arbeit und Zusammenarbeit eine relevante Rolle. Der Leitsatz Structure follows Strategy wird zu Structure follows Talents, um Talenten im Unternehmen zu ermöglichen, möglichst effektiv und effizient zusammenzuarbeiten und im Ergebnis innovative Ideen hervorzubringen. In diesem Zusammenhang kann die Interdisziplinarität einer Organisation oder einzelner Teams einen relevanten Innovationstreiber darstellen.

Interdisziplinarität

Interdisziplinarität bedeutet, dass Räume geschaffen werden, in denen Talente aus unterschiedlichen Disziplinen kollaborieren und sich austauschen können. Durch die Vielfalt an Qualifikationen und unterschiedlichen Vorgehensweisen in der Lösungsfindung können Herausforderungen schneller gemeistert werden. Es geht hierbei jedoch nicht nur um die Fähigkeit Probleme zu lösen, sondern auch um die Steigerung von Kreativität innerhalb der eigenen Organisation.

Wissenschaftsnähe

Wie bereits erläutert, ist die Offenheit eines Unternehmens ein entscheidender Erfolgsfaktor. Zur Offenheit gehört auch, dass neben den Ergebnissen der eigenen F&E-Abteilungen auch die Erkenntnisse der Wissenschaft genutzt werden. Die Nähe zur Wissenschaft kann über den regelmäßigen Austausch mit Forschenden, über Investitionen in Forschungsprojekte sowie über die Zusammenarbeit mit Universitäten und Forschungsinstituten gesichert werden.

Evidenz-basiertes Denken

Wenn Entscheidungen auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen oder internen Experimenten getroffen werden, kann dies der natürlichen Voreingenommenheit des Managements entgegenwirken.

Exponentielles Denken und Denken im Sinne von Daten und Innovation

Das Informationszeitalter stellt Manager vor neue Herausforderungen. Während die Entwicklungen im letzten Jahrhundert noch linear und leicht vorhersehbar waren, folgen die Sprünge in der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung nun immer schneller aufeinander und zwingen Unternehmen, jederzeit agil und flexibel zu bleiben. Um in diesem exponentiellen Umfeld zu überleben, ist es notwendig, diese Erkenntnisse auf alle Ebenen des Unternehmens zu übertragen, angefangen bei der Unternehmensmission bis hin zur Auswahl von Talenten. Für die Auswahl von Talenten kann dies bedeuten, dass nicht nur bestimmte fachliche Qualifikationen herausgefiltert werden müssen, da diese ohnehin immer schneller veralten, sondern dass verstärkt auch auf die Lernbereitschaft der Bewerber:innen und Mitarbeiter:innen geachtet werden muss.

Einsatz moderner IT-Tools

Die Anpassung an ein neues Zeitalter erfordert auch den Einsatz geeigneter Tools. Für Mitarbeiter:innen soll es selbstverständlich sein, Software zu nutzen, die die synchrone und asynchrone Zusammenarbeit erleichtert.

Employer Brand und Talentmanagement

„Selection beats Treatment“: Die Auswahl, Beförderung, und das Outplacement von Personen ist von höchster strategischer Bedeutung. Für Unternehmen wird es immer wichtiger, funktionierende Strategien zu entwickeln, um Spitzentalente anzuziehen und zu halten. Es geht nicht mehr nur darum, zu fragen: Was bringen die Bewerber:innen mit? Vielmehr sollte sich das Management darüber im Klaren sein, was es neuen Mitarbeiter:innen bieten kann.

Berechtigtes Vertrauen

Berechtigtes Vertrauen bedeutet, dass Entscheidungen auch an Talente übertragen werden, die über die notwendige Kompetenz verfügen, um im Interesse des Unternehmens zu handeln. Diese Übergabe von Verantwortung an die Mitarbeiter:innen kann sich positiv auf deren Arbeitszufriedenheit auswirken und somit zur Bindung von Spitzenkräften beitragen. Darüber hinaus kann dieses Vertrauen flache Entscheidungshierarchie fördern.

Nachhaltigkeit

Vor allem für jüngere Generationen ist der Gedanke der Nachhaltigkeit bei der Auswahl potentieller Arbeitgeber wichtig. Eine Verpflichtung zur Einhaltung hoher Umwelt-, Sozial- und Governance-Standards erleichtert es den Talenten, sich mit den Werten des Unternehmens zu identifizieren. Gleichzeitig schafft der Fokus auf Nachhaltigkeit weitere Möglichkeiten, die eigene Wertschöpfungskette neu auszurichten und Produkte und Dienstleistungen weiterzuentwickeln.

Führung 5.0: Selbstführung und -vertrauen

Führungskräfte sollen durch Auswahl und Sozialisation die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter:innen zur Selbstführung, Eigenverantwortung und Gewissenhaftigkeit stärken. Das spart Zeit, strafft die Prozesse und verbessert die Qualität, denn Entscheidungen, die nach oben delegiert werden, sind in der Regel weiter von der Realität der Produktion und der Kundschaft entfernt. Das Setzen von Defaults ist das effektivste und effizienteste — und gleichzeitig am wenigsten genutzte — Führungsinstrument. Dabei ist es gerade dieses Führungsinstrument, das die Delegation von Entscheidungen ermöglicht und Vertrauen rechtfertigt. Führungskräfte müssen heute nicht nur die ihnen direkt unterstellten Mitarbeiter:innen führen, sondern auch eine Gemeinschaft von Menschen innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Diese Menschen können nicht belehrt werden, sondern müssen gewonnen und überzeugt werden.

Der Kern des Erfolgs virtueller Führung ist Struktur, Aufgabenklarheit und Rollenklarheit. Teams arbeiten um so besser zusammen, je klarer die jeweiligen Rollen, Abhängigkeiten voneinander und Aufgaben geklärt sind. Wichtig ist auch die asynchrone Dokumentation von wichtigen Dingen (handbook first).

Followership 5.0

Followership 5.0 ist das Pendant zu Leadership 5.0. Es umfasst Loyalität gegenüber der Organisation, Engagement für andere, gegenseitige Hilfe, unternehmerisches Handeln, Einhaltung von Organisationsbeschlüssen, sportlicher Umgang mit kleinen Ungerechtigkeiten und das Vorantreiben der eigenen Entwicklung. Diese Aspekte sollten standardmäßig auch Teil der jährlichen Überprüfungen und Mitarbeiterbeurteilungen sein.

Passende Räume

Es braucht Räume, die sowohl konzentriertes, vertieftes Arbeiten erlauben und ermöglichen als auch Räume, die Austausch und Gemeinschaft fördern und wie ein „Marktplatz“ agieren.

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Isabell Welpe

👩🏻🎓Prof. Strategy @TUM 💻 Research on „most things D“: Decentralisation, Digitalization, Diversity & Disruption of Old Organizational Designs.